Monatsmagazin

IN MAGAZIN Oktober 2021

Liebe Leser*innen,

zum 60sten Mal jährt sich in diesem Monat das Anwerbeabkommen mit der Türkei. Bei anderen Ländern wie Italien wird es bald 70 Jahre her sein, dass die ersten „Gastarbeiter“, wie sie damals noch genannt wurden, nach Deutschland kamen.

Inzwischen ist dies Geschichte, eine für uns alle sehr bedeutsame Geschichte. Doch wird diese Bedeutung in der breiten Öffentlichkeit oder gar im Geschichtsunterricht auch wirklich gesehen? Wird die enorme Leistung dieser Menschen, die alles verlassen haben, was sie hatten, um in einer ihnen völlig fremden Umgebung mit enormen Entbehrungen den Wiederaufbau Deutschlands voranzubringen, wirklich angemessen gewürdigt – jenseits der offiziellen Feierstunden? Werden diese Menschen und deren Nachkommen nicht immer noch von vielen als „Ausländer“ gesehen, egal in der wievielten Generation und wie lange sie schon hier leben? Ob mit oder ohne deutschen Pass sind sie für viele immer noch keine „echten“ Deutschen, werden – allein schon wegen ihrer für sie fremdklingenden Namen – nicht zu Vorstellunggesprächen eingeladen, haben Probleme bei der Wohnungssuche und so weiter. Nach dem schrecklichen Attentat vom 11. September, das sich auch schon zum 20. Mal gejährt hat, wurde aus den immer noch skeptisch beäugten und nach wie vor diskriminierten „Türken“ „die Muslime“, die von nun an das Abendland zu bedrohen schienen.

Und es begann der endlose, unglückselige Afganistan-Einsatz, mit dem „der Westen“ seine Werte mit militärischen Mitteln zu implementieren suchte. Das katastrophale Ende dieses „Engagements“ mussten wir in den letzten Wochen mitansehen. Eine Katastrophe auch für all die vielen Menschen, denen Deutschland zunächst Hilfe und unbürokratische Aufnahme versprochen hatte. Verständlich dass nun viele bereits hier lebende Afghaninnen und Afghanen Angst davor haben, dass ihr Land bald wieder zum „sicheren Herkunftsland“ erklärt wird.

Die meisten dieser Menschen kommen nicht freiwillig nach Deutschland, sondern auf der Flucht vor Krieg, Not und Willkür, genauso wie auch die Einwanderer vor 60 Jahren nicht aus purer Reiselust hierher kamen, sondern weil es in ihren Herkunftsländern keine Arbeit und für die ganze Familie kein ausreichendes Auskommen gab. Vor 60 Jahren holte sich Deutschland die Arbeitskräfte, die das „Wirtschaftswunderland“ dringend brauchte. Heute ist Deutschland nicht zuletzt dank dieser vielen Zugewanderten die viertgrößte Wirtschaftsmacht der Welt und könnte auch ohne Gegenleistung einfach nur die Tür aufhalten für Menschen, die in Not sind und sich jenseits von Verfolgung hier ein neues Leben aufbauen möchten, in eigener Verantwortung und aus eigenen Stücken.

Natürlich wird Deutschland auch von diesen neu Zugewanderten profitieren und irgendwann wird man hoffentlich auch ihre Leistung würdigen. Doch nicht der Gedanken des „Nützlichen“ darf aktuell im Vordergrund stehen, sondern schlicht und einfach die Menschlichkeit. In diesem Sinne gilt das bekannte, auf die sogenannten „Gastarbeiter“ gemünzte Max Frisch-Zitat „Man rief Arbeitskräfte, aber es kamen Menschen“ auch heute noch – für jeden Einzelnen, die/der zu uns kommt. Jede und Jeder ist gleichwertiger Teil unserer Gesellschaft und muss auch so behandelt werden.

Ihr Sami Aras
Vorsitzender des Forums der Kulturen Stuttgart e. V.

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